Am 20. Oktober 2013 war Jörgen Stenberg mit seiner Band aus Anlass des zehnjährigen Bestehens des KULTURHUS BERLIN im Felleshus der Nordischen Botschaften in Berlin, um Musik zu machen und zu joiken.
Was ist "Joik"?
Joik ist möglicherweise die älteste Gesangsform Europas, es ist die traditionelle Gesangsform der Samen, Nordsamisch luohti, südsamisch vuollie, Ostsamisch leu'dd. Joik diente und dient in der erhaltenen Form noch immer der Bewahrung kollektiver Erinnerungen mit sehr starker sozialer Funktion. Gejoikt wird nicht über eine Person, über ein Tier, ein Ereignis oder eine Landschaft, auch nicht von ihnen, sondern (das Verb "att joika" ist transitiv) die Person wird gejoikt, ein bestimmter Hütehund wird gejoikt, ein Ereignis wird gejoikt, die Landschaft selbst wird durch den Joik in der Vorstellung des Joikenden und seiner Zuhörer lebendig, eine kollektive Erinnerung. Der Vortragende mag seine Interpretation und seine emotionalen Assoziationen einfließen lassen, durch die Färbung seiner Stimme, durch Tempus und Stimmdruck, sogar seine jeweilige Stimmung im Augenblick des Vortrags fließt ein und die Stimmung der Anwesenden. Im "Personenjoik" wird dies besonders verstehbar: Wenn eine Person gejoikt wird, vor Menschen, dann entsteht diese Person in den Vorstellungen der Anwesenden. Die alten Auffassungen der Samen von "Leben" sind etwas anders, als die unseren; wenn wir an jemanden, zum Beispiel einen verstorbenen Vorfahren, denken, von ihm träumen oder ihn joiken, dann ist er lebendig, auch ohne physische Existenz. Im aller engsten ursprünglichsten Verständnis des Joiks ist es also eigentlich nicht möglich, den Joik aus seinen sozialen Kontext zu lösen und vor einem fremden Personenkreis ("Publikum") auf einer Bühne vorzutragen, vor Menschen, die "nur zuhören". Und eigentlich also nicht auf eine CD gebrannt und wieder abgespielt.
Für das Funktionieren der Kommunikation, sowohl in der Gemeinschaft der Menschen, als auch mit dem Sinnlich-Göttlichen, war der Noaide zuständig, der Schamane. Auch er bediente sich des Joiks für den Kontakt in die anderen Welten und zu seinen Hilfsgeistern und nach der Rückkehr aus den anderen Welten, also nach Erwachen aus der Extase, berichtete er den Menschen durch joiken von seinen Erlebnissen und den Ergebnissen seiner dortseitigen Verhandlungen. Sein wichtigstes Hilfsmittel aber war seine Trommel und es gab Noaiden, die niemals joikten; die nannte man "judakas".
Die Ansicht der die Samen christlich missionierenden Priester (und einiger Ethnographen), der Joik sei Teufelszeug und Beschwörung und/oder Anbetung heidnischer Götter, ist also nicht zutreffend und einer jener zahlreichen Irrtümer, Vereinfachungen und Verfälschungen, die ihren Ursprung in kolonialer Überheblichkeit, Ignoranz und Zweckmäßigkeit haben. Erst der 1928 geborene samische Bischof Johan Märak in Jokkmokk nahm die Joiktradition auf und begann in den 1960er Jahren zu joiken. Er stammt aus einem alten samischen Geschlecht, joikt in der nordsamischen und in der lulesamischen Tradition und genießt hohes Ansehen.
Joik ist identitätsstiftende Essenz der samischen Kultur, oder mit den Worten N. A. Valkeapääs: "Die Samen kannten den Begriff Kunst nicht und deshalb gab es auch keine Künstler. Oder vielleicht sollte man sagen, dass für die Samen alles Kunst war, das ganze Leben." So war der Joik die DNA dieses Lebens und deshalb mussten die Kolinisatoren und Missionare dort auch so radikal eingreifen und verbieten, um den Samen ihre Identität zu nehmen.
Der Joik war ursprünglich immer ohne Instrumente, übrigens auch ohne Trommel, denn die Trommel der samischen Noaiden (Schamanen) war kein Musikinstrument, vielmehr Gerät zur Kommunikation mit dem Göttlichen und zur Unterstützung bei der Erlangung des Trancezustandes. Joik bedarf auch keiner Worte, keines Textes. Werden Worte verwendet, müssen nicht durchgängige Texte entstehen. Es genügen auch einzelne mitunter mehrfach wiederholte Worte oder Phrasen. Denn Silben, Töne, sind das Ausschlaggebende. Meist werden keine Einzelnoten gesungen, sondern Gleittöne, dazu Wechsel zwischen Brusttönen und Kopftönen. Der schwedische Musikwissenschaftler Carl-Allan Moberg hat versucht, das Joiken zu beschreiben. Als typisch benennt er "die pressende Stimmlage, die auf stark gespannten Stimmbändern und enger Kehle beruht. Dies ergibt einen ziemlich schroffen Klang und sehr wenig Resonanz. Außerdem hat man den Eindruck, die Zunge würde im hinteren Teil gegen den Gaumen gepresst, wodurch die Luft am Durchströmen gehindert wird." Das gilt natürlich nicht durchgängig, dazu sind die Techniken zu variierend, aber die Beschreibung gibt doch einen guten Eindruck vom Joik.
1673 erschien (auf Lateinisch) die Monograpie "Lapponia" des Johannes Schefferus, in der er auch die Texte zweier Joike des Nord-Samen Olaus Sirma wiedergab. Mit der Übersetzung ins Deutsche, Englische, Französische und Niederländische wurden sie in Europa bekannt. J. G. Herder übersetzte einige Joike und selbst Kleist und Goethe wurden durch sie inspiriert. Siehe J. G.Herder – Stimmen der Völker in Liedern. Zwei Teile 1778/79; "Brautlied" und "An das Rentier".
Herder erwähnt, dass Kleist zwei Lieder ”der Lappen nachgebildet” habe und kommentiert: ”Wahrlich so ist das menschliche Herz und die volle Einbildungskraft nie wirksamer als in den Naturgesängen solcher Völker. Sie öffnen das Herz, wenn man sie höret, und wie viele Dinge in unsrer künstlichen Welt schließen und mauern es zu!“ Johann Gottfried Herder: Von Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst, nebst Verschiednem, das daraus folget.
Mit dem Wiedererwachen der Samen als Volk mit eigener Kultur (spätestens) in den 1970er Jahren wurden auch Joiktraditionen wiederbelebt und mit instrumentaler Musik in die neue Zeit transportiert. N. A. Valkeapää bezeichnet die Instrumente als "die ersten unehelichen Kinder des Joiks." Eine gelungene moderne Instrumentierung ahmt all die genannten Kriterien des Joiks nach und unterstützt die Wirkung. Jan Garbarek hat dies sogar ganz ohne menschliche Stimme mit seinen Saxophonen (und seinen Musikern) gemacht.
Áillohaš nennen die Samen ihren verehrten überragenden Künstler und Politiker, den wir unter dem Namen Nils Aslak Valkeapää (geb. 1943 - gest. 2001) kennen. Er ist wohl zu Recht als der Urheber des modernen Joiks zu ehren. 1994, zur Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Lillehammer, sah ihn die Welt in seiner prächtigen Tracht mit Rentieren und Akja (Schlitten) ins Stadion fahren und die Welt hörte seinen Joik! In seiner Tradition stehen die großen Gegenwartsjoikare Norwegens, Schwedens und Finnlands, wie da beispielhaft sind Ulla Pirttijärvi, Wimme Sarri, Frode Fjellheim, Sofia Jannok, Lars Ánte Kuhmunen, Johan Anders Bær, Jörgen Stenberg und Simon Issát Marainen. Sie joiken! Mit den Ausnahmen, bei denen auch sie ein Lied singen (Sofia singt zum Beispiel "Waterloo" auf Nordsamisch und Jörgen sagt, dass er gerne singt, aber dass ihm das Traditionelle wichtig ist, wenn er öffentlich auftritt oder als er nun seine erste CD herausgegeben hat und er deshalb keine Gesangs-CD machen könnte).
Simon Issát Marainen, Jahrgang 1980, ist samischer "Kulturarbeiter" aus Vuolit Sohpar (Nedre Sopopero) im schwedischen Teil Sápmis, nicht weit von der finnischen Grenze, wo das Joiken immer lebendig geblieben war; Sänger, Joikare, Schauspieler, Schriftsteller, Radioprogramm-Macher. Seine Mutter und seine Schwester sind Silberschmiede, sein Vater Kunsthandwerker, Dichter und Joikare, alle Brüder sind Reneigner wie er selbst. Er zählt zu den etablierten Joikern.
Mit seiner zweiten CD Àra gelingt ihm die wunderbare Symbiose aus Tradition und lebender samischer Zukunft. Auch die Musiker, mit denen er seine erste Scheibe machte, wollten mehr von sich hören lassen und Simon hat es ihnen erlaubt, in genau dem Rahmen, den seine Joiks als instrumentale Unterstützung brauchten und vertrugen. Großartiger Jazz ist daraus entstanden, samischer Blues der Sonderklasse und der traditionelle Joik ist dabei nicht zu kurz gekommen. Was zu widersprüchlichen Kritiken führte. Es gibt eben auch Samen, die diese Art der begleitenden Musik nicht mögen und mehr "Reinheit" besser gefunden hätten. Doch nie entstehen Brüche zwischen menschlicher Stimme und Instrumenten, die Musik setzt die Erinnerungsbilder des Joiks harmonisch fort.
Die Band Ára besteht aus Simon Issát Marainen, Axel Olle Sigurd Andersson, Christian Augustin, Johan Asplund und Daniel Wejdin. Die große nordschwedische Regionalzeitung Västerbottens Kuriren schrieb über ein Àra-Konzert während des Jazzfestivals in Umeå, es fühle sich an "als erlebe man eine moderne samische Postrockversion von Mozarts Reqiuem, in dem Leben und Sterben, Freude und Trauer, Liebe und Hass abgehandelt werden." Und als die Band "Eallin leai eallu" spielt, und Simon erklärt, dass der Joik von den Zwangsumsiedlungen der Samen aus dem Norden Sápmis handelt, werden Nachdenklichkeit und Ernsthaftigkeit im Publikum geradezu greifbar.
Das kleine Heft zur CD ist auf Nordsamisch, kein Schwedisch, kein Englisch. Simon sagt: "Wenn ich nichts Samisches produziere - was bin ich dann? Man kann sich ja nicht "samischer Verfasser" nennen, wenn man nicht auf Samisch schreibt. Man hört und liest heutzutage viel über diejenigen, die es vermieden, Samisch zu sprechen und es ihren Kindern nicht weiter gaben, weil sie sich schämten, Samen zu sein. Doch es gab immer auch die, die stark und stolz waren auf ihre Ahnen und ihre Abstammung und die den Kanpf angenommen haben. Denen wollen wir danken, die gegen den Strom gingen. Dank ihrer spreche ich - und viele andere - heute Samisch!"
Schön, dass sich Simon mit seinem ersten Stück in die alten Traditionen seiner Vorfahren stellt, einem sehr traditionell, klassisch vorgertagenem Joik, à capella, ohne Musik, : "Dolozat", das ist "einst, vor langer Zeit", ist ein Lehrstück in Joik, mit seiner Eindringlichkeit und der für den Joik typischen rauen Stimme eines Renhirten.
Auch mit den Nummern 2, 7, und 11 führt uns Simon in Erinnerungen und Träume. In "Apmasat" (das Unbekannte) scheinen die Instrumente die Funktion des Joiks zu übernehmen, sich dramatisch steigernd bis zu gewaltiger Dynamik, erschauernd, und die Stimme bleibt - ohne Worte - im Hintergrund. "Ruoktu" (zu Hause) ist Simons Heimat und genau so ist es dort, am Fluss Lainio, wie ein Silberfaden in der Landschaft, in den Wäldern an der schwedisch-finnischen Grenze, der Blick aus dem Fenster seines Elternhauses; friedlich, still. "Mátki", die Reise, die der Zuhörer selbst bestimmt. Beschwingt und frei nehmen uns die Instrumente an die Hand und der Joik begleitet uns im Hintergrund, jeder mag sich auf seinen eigenen Weg machen - mit einer überraschenden Ankunft!
Die Personenjoik, Mihkkal Áilu, und Juhàn (Nrn. 3 und 4), sind von den Charakteristika der gejoikten Personen getragen, persönlich, wie Personenjoik sein soll. Mihkkal, ein norwegischer Same, sanft, fast zärtlich, im deutlichen Gegensatz zu Juhàn. Ja, so ist Juhàn! Hüpfend, tänzelnd, Simons Kumpel aus Kiruna, mit dem er in Berlin war und im norddeutschen Sauwetter Kunsthandwerk verkauft und gejoikt und deutsche Bratwurst gegessen hat.
Eindringlich sind die Beispiele für die kollektiven Erinnerungen an Ereignisse (Nrn. 8, 9 und 10). "Eallin leai eallu" brachte Simon aus Västerbotten mit, von einer Familie, die einst zwangsumgesiedelt wurde, wie so viele Samen aus dem Norden Sápmis und es ist dem Thema angemessen ein sehr traditioneller Joik, wenn auch nun mit Instrumentierung. "Miesit goiket" kann zur Bewahrung unserer aller "kollektiven Erinnerung" werden, denn es ist die Zerstörung der Natur durch Klimawandel und andere Umweltzerstörungen, die der Mensch betreibt. In diesem Stück übernehmen mitunter die Instrumente selbst die Berichterstatterfunktion. Mårten Hedborg ist mit seinem Saxophon als Gast dabei. Auf "Ilut ledjet" kam Simon, als er nach einer Operation einsam im Krankenhaus lag. Er war schwer misshandelt worden, mit einem mehrfach gebrochenen Nasenbein. Ein etwas trauriger Joik, dennoch kraftvoll und voller Hoffnung, dass alles gut werden würde.
Auf der CD finden sich drei Lieder, in die Joikpassagen eingewoben sind, es sind Liebeslieder (Nrn. 5, 6, 12) von zerbrochener Liebe und von erfüllter Liebe. In "Visalingo" strahlen drei samische Sterne zusammen: Sofia Jannok und Simon singen und joiken einen vertonten Text von Nils Aslak "Áillohas" Walkeapää. "Váimmoza" ist das Lied vom jungen Samen, der vergeblich auf die Heimkehr seines geliebten Mädchens wartet und der am Ende ihr Grab in Haparanda findet. Eine traurige Liebesgeschichte. Sophia unterstützt hier mit Joikpassagen.
"Wozu sind die Samen zu gebrauchen?" - fragte Simon Issát Marainen in einem seiner Joiks auf seiner Debut-CD. "Um mit ihren Renen das Silber aus den Bergen zu transportieren? Um mit dem Messer das lange Gras zu schneiden, damit die weißen Herren beim Spazierengehen keine nassen Hosenbeine bekommen?" Mit "Ára" bekommt man Joik, Musik und kollektives samisches Erinnern an vierhundert Jahre Unterdrückung und musikalische und gejoikte Ausblicke auf eine lebende samisch Zukunft!
Kleine Anmerkung zum Schluss: Die auch außerhalb des Nordens unter Liebhabern von "Weltmusik" recht bekannt gewordene Marie Boine begann 1985 mit einfacher Popmusik und samischen Texten, sogar mit Lennons "Working Class Hero", um sich über Rock, Folk und Jazz musikalisch weiter zu entwickeln. Ihre Texte sind ganz samisch, sowohl in der Sprache als auch in den Inhalten, die Natur würdigend, die Familien und die Vorfahren ehrend, teils politisch aggressiv, sie gilt oft als kultureller "Botschafter" der Samen. Doch sie singt. Auch die lokal sehr bekannte Yana Mangi mit ihrer flotten rockigen Band Enyojk singt, sie hat eine reelle Gesangsausbildung. Nils Aslak Valkeapääs Patensohn Niko wird von seinem Musikverleger gar in Traditionen der 1980er Jahre zu David Bowie und The Cure gestellt. Bei all den genannten erinnert nur selten der Klang ihrer Stimme ein wenig ans Joiken.
Hans-Joachim Gruda
Februar 2013