Die Samen haben acht Jahreszeiten
Die klimatischen Veränderungen im Jahreslauf haben großen Einfluss auf das Leben der Menschen, die naturnah leben und wirtschaften, denn Pflanzen und Tiere leben im Rhythmus dieser Veränderungen und der Mensch folgt ihnen in Waldwirtschaft, Fischerei, Jagd und Renwirtschaft. Und kulturell.
Gïjre-dálvi – Frühlingswinter (März/April)
Die Rene ziehen, bewacht von den Hirten, von den Winterweidegebieten in den Wäldern des Flachlandes in die Mittelgebirgsregion und allmählich weiter auf die höher gelegenen Tundraflächen. Die Renkühe (vajor) streben zu ihren alten Kalbungsplätzen. Das Futter besteht, weil der Boden noch immer mit Harsch bedeckt ist, meist aus Flechten, auch den Bartflechten (Usnea barbata) an den Bäumen.
Dies ist die eigentliche Skitourensaison, die schönste der schneebedeckten Zeiten, denn die Tage sind schon lange hell und es ist nicht mehr zu kalt. Über Ostern sind die Touristenhütten an den markierten Routen geöffnet - und voll! Hundeschlitten sind nichts ursprünglich Samisches oder Nordeuropäisches. Die Hunde der Samen, Norweger, Schweden und Finnen waren und sind Hütehunde oder Jagdhunde. Für Transporte haben sie Rene und Pferde. Hundeschlittentouren haben sich aber in den letzten Jahren in der Touristik etabliert; sie sind für die Renwirtschaft ein Störfaktor. Verantwortungsbewusste Hundeführer stimmen sich deshalb jeweils aktuell mit den Renhirten bei der Routenwahl ab.
Gïjre – Frühling (April/Mai)
Die Vorjahreskälber und die männlichen Tiere (sarv) verlassen die Herden. Die weiblichen Tiere suchen schneefreie Stellen auf, meist Südlagen, an denen die Vegetation früh wächst. Dort werden im Mai die neuen Kälber geboren, und zwar an denselben Stellen wie in den Jahren zuvor. Das Futter setzt sich aus allem zusammen, dessen die Tiere habhaft werden können: Flechten, Gras, Kräuter, Laub. Die Muttertiere dürfen in dieser Zeit nicht gestört werden; es kommt vor, dass sie sonst die Kälber abstoßen. Vielfraße (Gulo gulo), Luchse (Lynx lynx), Steinadler (Aquila chrysaetos) und vereinzelte Wölfe (Canis lupus) holen sich so manches neugeborenes Renkalb.
Bis Anfang Mai ist Skitourensaison. Nun kann das Zelt schon auf schneefreien Flecken aufgestellt werden. Größte Rücksicht auf die Rene ist geboten. Und Vorsicht bei der Überquerung von Eisflächen. Im Mai setzt die Schneeschmelze mit Macht ein und das Flusseis bricht mit lautem Getöse.
Gïjre-giesie – Frühlingssommer (Juni)
Im Juni ist die Markierung der Renkälber (fast) geschafft. Die Muttertiere und ihre Jungen suchen Birkenwälder, Moore und Bachläufe auf, wo es zeitig grün wird. Noch können sie hier in Ruhe weiden ohne Mücken und andere Insekten. Für die Renhirten ist nach der Kälbermarkierung Zeit für Erholung und Instandsetzung von Zäunen, Gehegen und Hütten. Und es ist die beste Zeit für das Fischen in den Gebirgsgewässern. Nach dem langen Winter schmecken Gebirgsforelle und Saibling besonders gut.
Die Touristen werden wegen der Mitternachtssonne kommen oder zur Mittsommar-Feier. Noch führen Bäche und Flüsse zu viel Schmelzwasser und noch sind an den markierten Wanderwegen nicht alle Brücken wieder eingesetzt (oder repariert). Eine schöne ruhige Reisezeit für Kultur und Stille und zum Fischen. Ganz weit im Norden an der norwegischen Küste kann man hoch über den Fjorden noch skifahren.
Giesie – Sommer (Juni/Juli)
In der Wärme des Sommers ziehen die Rener höher hinauf ins Hochgebirge und auf die weiten Tundren, um sich abzukühlen und um den Insekten zu entkommen. Der Sommer ist eine hektische intensive Zeit für die Renhirten, die oft den ganzen hellen Tag herum arbeiten. Von Ende Juni bis in den Beginn des Julis hinein werden die Tiere zur Kälbermarkierung gesammelt. Sie sind über große Gebiete verstreut und die Renhirten sind mit ihrern Hütehunden unterwegs, benutzen aber auch Geländmotorräder und Helikopter zum Einsammeln. In den Gehegen (rengärde) folgen die Kälber ihren Müttern und daher ist es leicht festzustellen, welches Kalb wem gehört. Die Kälber werden eingefangen und an den Ohren mit den Eignermarken gekennzeichnet. Jeder Reneigner hat eine persönliche registrierte Markierung. Die „renmärkningen” wird meistens nachts vorgenommen, wenn die Sonne tief steht oder etwas unter dem Horizont und es deshalb kühler ist.
Es ist diese einmale Stimmung des hellen nordischen Sommers, die nun zum Reisen einlädt. Freilichtmuseen und Kulturstätten der Samen und aller Bewohner Sápmis sind mit Leben erfüllt und erwarten die Besucher. Die Inlandsbanan hat Saison. Und es ist die Zeit zum Wandern und zum Verweilen in einer großartigen Natur. Es ist die schöne sommerwarme Zeit der langen hellen Tage und die Hütten entlang der markierten Wanderwege stehen bereit.
čakča-giesie – Herbstsommer (August)
Ab Ende Juli zerstreuen sich die Herden. Die Rener wandern wieder hinunter zu den Birkenwäldern und Mooren. Dies ist für die Tiere eine wichtige Aufbauperiode, denn nun müssen sie Muskeln und Fettlager bilden, um den langen rauen Winter zu überleben. Noch gibt es genug Futter in Form von Laub, Gras und Kräutern, so dass die Rener das wählen können, was am nahrhaftesten ist. Gerne werden Pilze verzehrt, denn sie sind reich an Protein und Phosphor. Spät im August beginnen die Samen, die männlichen Tiere (sarv) einzusammeln für die Schlachtung. Nach der Sommerweide sind sie groß und stark. Die Tiere, die geschlachtet werden, dürfen noch nicht brunftig sein; das Fleisch bekäme sonst einen strengen, fast bitteren Geschmack. Für die Renhirten ist es die Zeit fürs Beerensammeln und Fischen.
Wer im August nach Sápmi reist, findet die Natur an der Schwelle vom Sommer zum Herbst. Es ist angenehm warm und relativ trocken, gegen Ende August gibt es kaum noch Insekten und die Hauptsaison für Touristen neigt sich ihrem Ende zu – es wird stiller! Verschiedene Beeren sind nun reif zum Sammeln. Eine schöne Zeit für Wanderungen und sportliche Aktivitäten!
čakča – Herbst (September)
Die Rener sind nun hauptsächlich in der Mittelgebirgsregion. Mit dem Frost verringert sich der Zugang zu Laub, Gras und Kräutern und der Nährstoffgehalt der Pflanzen nimmt ab. Die Rener müssen jetzt mehr auf Flechten zurückgreifen und sie graben sich die unterirdischen essbaren Teile von Pflanzen aus, z. B. Fieberklee (Menyanthes trifoliata). Vor der Brunft muss die in der zweiten Septemberhälfte begonnene Herbstschlachtung abgeschlossen sein. Ein ausgewachsener Renhirsch (sarv) kann bis zu 150 Kilo wiegen. Die Brunft dauert ungefähr zwei bis drei Wochen. In dieser Zeit sind die Rener sich selbst überlassen. Die Renhirten sind auf der Jagt, sie fischen oder erledigen, was erledigt sein muss, bevor der Schnee dauerhaft liegen bleibt. Die Kälber, die man im Frühlingssommer verpasst hat, werden nachmarkiert.
Die Herbstfärbung verzaubert das Land in glühendes Gelb und Rot in allen Nuancen. Flüsse und Bäche führen nur wenig Wasser. Die Nächte sind schon dunkel und damit besteht die Möglichkeit, das Polarlicht zu sehen. Es kann auch schon recht frisch werden, besonders nachts wird es Frost geben, und auf den Bergen fällt der Niederschlag bereits als Schnee. Eine zauberhafte Kulisse für die leuchtenden Tundren und Birkenwälder.
čakča-dálvi – Herbstwinter (Oktober/November)
Nun kommt der Schnee, um zu bleiben. Die Rener suchen Stellen in Mooren und Wäldern mit Graswuchs auf, an denen noch etwas Grün ist, doch je dicker die Schneedecke wird, desto mehr sind die Tiere auf Flechten angewiesen. Die Renhirten sammeln die Tiere, scheiden die aus, die sich aus Nachbar-Wirtschaftsgemeinschaften verirrt haben und die, die geschlachtet werden sollen und teilen sie in Gruppen, die dann die Wanderung zum Winterweideland beginnen. Geschlachtet werden jetzt hauptsächlich Kälber mit einem Gewicht zwischen 30 und 50 Kilo. Für die Behörden wird die Zahl der Tiere in jeder Wirtschaftsgemeinschaft (sameby) ermittelt. Die Winterherden bestehen zu ca. 75% aus weiblichen Tieren.
Es ist die Zeit des „stillen Reisens“ mit viel Besinnlichkeit, gemütlichen Unterkünften, sehr gutem Essen und kulturellen Begegnungen. Und mit der Chance, Polarlicht zu sehen.
Dálvi – Winter (Dezember/Januar/Februar)
Während des Winters weiden die Rener Flechten und Reisig (vor allem der Beerengewächse) in den Wäldern des Flachlandes. Siedlungen, Forstwirtschaft und Straßen können die Weidegebiete zerstückelt haben. Der Zugang zu Futter ist abhängig von der Schneelage und die Renhirten sind mitunter gezwungen, die Tiere von einem Weidegebiet zum anderen zu versetzen. Wenn Nahrung auf dem Boden nicht zugänglich ist und gleichzeitig Mangel an Bartflechten (Usnea barbata) herrscht, kann das zu akutem Nahrungsmangel führen. Unter solchen Umständen muss Stützfutter ausgegeben werden. Die Renhirten umfahren regelmäßig die Herden; an den Spuren im Schnee erkennen sie, ob sich Tiere entfernt haben und ob und welche Raubtiere sich an die Herde heranmachen.
Wo Winter noch Winter ist, mit reinem Schnee und von weit und sehr weit her kommen die Touristen, um das Polarlicht (Aurora borealis) zu bewundern. Allein die Stille in der Polarnacht ist ein großes Erlebnis für die Großstädter aus dem Süden. Nahe der Straßen und Siedlungen sind Elche und Rener leicht zu beobachten. Der über 400 Jahre alte Jokkmokks Vintermarknad ist ein kultureller Höhepunkt im Jahreslauf. Das ICEHOTEL© in Jukkasjärvi ist für sich ein Kunstwerk mit seinen Eis- und Schneeskulpturen, in dem man auch übernachten kann. Es lohnt sich, in den Winter zu fahren, im Winter nach Sápmi!
- - - gerne lese ich über die acht Jahreszeiten auch bei Kerstin Ekman, in ihrem Roman "Guds barmhärtighet" aus der Triologie "Vargskinnet"; in der Ausgabe Bonnier pocket auf den Seiten 83/84. (Deutsch: Am schwarzen Wasser)